Beschluss: Kenntnis genommen

Landrat Jakoubek gibt das nachstehende Interview mit dem Direktor des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, das am 08.01.2005 in der Frankfurter Rundschau erschienen ist, zur Kenntnis:

 

"Gefahr, dass die Behindertenhilfe auf das Abstellgleis geschoben wird"

Warum die Kosten steigen: LWV-Landesdirektor Lutz Bauer zur Zukunft der Rehabilitationsleistungen und der Bedeutung des betreuten Wohnens

Frankfurter Rundschau: Einige hessische Landkreise fordern die Auflösung des LWV und die Übertragung seiner Aufgaben auf die Kommunen. Was halten Sie davon?

Lutz Bauer: Die hessischen Landkreise haben über 2,5 Milliarden Euro Schulden. Sie erwarten zum Jahresende einen Fehlbetrag von 800 Millionen Euro. Und sie sind bundesweit diejenigen, die durch ihre Landesregierung am schlechtesten mit Finanzen ausgestattet sind. So ist es sehr verständlich, dass sie eine Verfassungsklage gegen das Land erheben wollen und dass Proteste laut werden, wenn sie gesetzlich zugewiesene Aufgaben - und dazu gehört die Sozialhilfe, auch die des überörtlichen Sozialhilfeträgers LWV - nur noch durch Kreditaufnahmen finanzieren können.

Sie halten das für ein strukturelles Problem?

Ja. Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ist die bundesweit größte Rehabilitationsleistung. Sie wird aber behandelt, als sei sie ein Fall für die Fürsorge und wird deshalb noch in der Sozialhilfe geregelt. Doch mit Fürsorge haben die Leistungen, die behinderten Menschen Wohnen und Arbeiten ermöglichen sollen, nichts zu tun. Sie stellen einen Nachteilsausgleich dar. Deshalb müssen sie in einem eigenständigen Leistungsgesetz geregelt werden, wie etwa die Pflegeversicherung.

Könnten die Kommunen Leistungen kostengünstiger anbieten?

Ich sehe gegenwärtig keinen Beleg dafür, dass die Kommunen die Aufgaben kostengünstiger ausführen können. Es ist vielmehr zu befürchten, dass die Qualität in der Behindertenhilfe abnehmen wird, ohne dass am Ende Kosten eingespart werden. Wenn es richtig ist, dass schon die Fusion zweier Landkreise Personalkosten spart - um wie viel richtiger ist dies, wenn ein LWV für 21 Landkreise und fünf kreisfreie Städte tätig wird. Die Kommunen müssten die Organisationsstrukturen des LWV 26 Mal abbilden, dies wäre nicht mit weniger, sondern mit mehr Kosten verbunden. Vor allem bei den finanzschwachen Kommunen bestünde die Gefahr, dass die Behindertenhilfe auf das Abstellgleis geschoben wird.

Warum steigen die Kosten?

Die Kosten steigen dynamisch an, weil die Zahl der behinderten Menschen in den letzen Jahren kontinuierlich und deutlich zugenommen hat.

Wie kommt das?

Zum einen partizipieren die behinderten Menschen heute auch von den Fortschritten der Medizin. So überleben heute viele der bundesweit jährlich etwa 200 000 Frühgeburten - viele aber leider mit schwersten Behinderungen, die dann die ganze Palette der Eingliederungshilfe benötigen: Von der Frühförderung über den Kindergarten, die Schule für praktisch Bildbare, die Werkstatt, das Wohnheim und das Betreute Wohnen. Außerdem werden Behinderte heute älter als früher. Vor 30 Jahren sind Menschen mit einem Down-Syndrom deutlich früher verstorben als heute, wo sie häufig über 70 Jahre alt werden. Schließlich ist die Alterspyramide der Behinderten eine andere als die der Gesamtbevölkerung. Und das liegt daran, dass Menschen mit Behinderung durch die Nationalsozialisten grausam ermordet wurden. Inzwischen ist eine neue Generation von Behinderten herangewachsen, deren Durchschnittsalter deshalb jünger ist als das der Gesamtbevölkerung. Wir sind froh, dass es die Fortschritte in der Medizin gibt. Wir müssen daraus aber auch die Konsequenz ziehen und die notwendigen Rehabilitationsleistungen organisieren.

Wie wollen Sie das finanzieren?

Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der sich Bund, Länder und Kommunen zu gleichen Teilen stellen müssen. Zurzeit, und das ist das eigentliche Problem der Behindertenhilfe, ist der Bund gar nicht beteiligt, das Land zu gerade noch fünf Prozent über den Kommunalen Finanzausgleich und zu über 80 Prozent die Kommunen, während die betroffenen Menschen anteilig mit anrechenbarem Einkommen und Vermögen zu den Kosten beitragen.

Wo und wie spart der LWV?

Der LWV hat bereits vor zehn Jahren Reformen begonnen, die jetzt immer mehr Wirkung zeigen. Wir haben die Sozialverwaltung, die ursprünglich ein nach einer überholten Ämterstruktur aufgebautes Landessozialamt war, völlig umgebaut und sie den unterschiedlichen Bedarfen angepasst. Geistig, seelisch oder körperlich Behinderte, Suchtkranke oder Nichtsesshafte - sie alle benötigen und bekommen unterschiedliche Hilfen. Das haben wir inzwischen organisiert in Zielgruppenmanagements.

Wie viel konnten Sie sparen?

Wir haben durch eine solche passgenaue Organisation etwa 23 Millionen Euro eingespart. Durch eine stringente Verwaltungsreform konnten wir auch Personalkosten sparen: So beträgt der Personalkostenanteil 2005 nur noch 3,6 Prozent. Dies wurde auch möglich durch eine eigens entwickelte EDV-Unterstützung von der Antragstellung bis zur Leistungsgewährung. Dank dieses Systems konnten wir ein Controlling-System aufbauen, also auch betriebswirtschaftliche Instrumente einführen. Seit Beginn der Reformen haben wir regelmäßig Ausgabenentlastungen erwirtschaftet und eine Rücklage von 55 Millionen Euro gebildet, die wir 2000 bis 2004 zur Verringerung der Verbandsumlage eingesetzt haben, die jetzt freilich aufgebraucht ist. Hinzu kommt der Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe, der sich besonders im Wohnen behinderter Menschen ausdrückt.

 

Was bedeutet das genau?

Früher baute die Behindertenhilfe auf einer Heimstruktur auf. Doch jetzt wird zunehmend erkannt, dass behinderte Menschen Autonomie anstreben und ihr Leben auch selbständiger organisieren können, wenn man ihnen die richtige Hilfe zukommen lässt. Und dies geschieht über das betreute Wohnen, das nicht nur eindeutig die humanere Form der Rehabilitationshilfe ist, sondern auch noch die deutlich günstigere. So kostet ein Platz im betreuten Wohnen durchschnittlich 26 Euro pro Tag weniger als ein Heimplatz. Schon jetzt haben wir in Hessen im betreuten Wohnen einen Anteil von mehr als einem Drittel. Andere Bundesländer liegen bei 20 bis 25 Prozent. Unser Ziel ist es, auf 50 Prozent betreutes Wohnen und 50 Prozent Heimversorgung zu kommen. Auch dies zeigt, dass unsere Reformen auch auf Kosteneinsparung ausgerichtet sind.

Leidet da nicht die Qualität der Behindertenhilfe?

Die Qualität der Behindertenhilfe darf in ihrer Substanz nicht leiden. In den letzen Jahren haben wir die gestiegenen Personalkosten und -Tarifsteigerungen im öffentlichen Dienst, an denen sich die Einrichtungen orientiert haben, niemals voll an diese weitergegeben. Das bedeutet, dass die Einrichtungen auch die Qualität ihrer Arbeit ein Stück zurücknehmen müssen. Eine moderate Zurückführung von Standards hat es schon gegeben. Im Fall einer Auflösung des LWV befürchte ich regionale Einschränkungen, die dann wohl alles andere als moderat sind.

Interview: Gundula Zeitz

Die Fachabteilungen wurden über das Sitzungsdienstverfahren beteiligt.