Sitzung: 23.02.2005 Ausschuss für Gleichstellung, Generationen und Soziales
Beschluss: Kenntnis genommen
Landrat Jakoubek gibt das nachstehende Interview mit dem Direktor des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, das am 08.01.2005 in der Frankfurter Rundschau erschienen ist, zur Kenntnis:
"Gefahr,
dass die Behindertenhilfe auf das Abstellgleis geschoben wird"
Warum die Kosten steigen: LWV-Landesdirektor Lutz Bauer zur
Zukunft der Rehabilitationsleistungen und der Bedeutung des betreuten Wohnens
Frankfurter Rundschau: Einige hessische Landkreise fordern
die Auflösung des LWV und die Übertragung seiner Aufgaben auf die Kommunen. Was
halten Sie davon?
Lutz Bauer: Die hessischen Landkreise haben über 2,5 Milliarden Euro
Schulden. Sie erwarten zum Jahresende einen Fehlbetrag von 800 Millionen Euro.
Und sie sind bundesweit diejenigen, die durch ihre Landesregierung am
schlechtesten mit Finanzen ausgestattet sind. So ist es sehr verständlich, dass
sie eine Verfassungsklage gegen das Land erheben wollen und dass Proteste laut
werden, wenn sie gesetzlich zugewiesene Aufgaben - und dazu gehört die
Sozialhilfe, auch die des überörtlichen Sozialhilfeträgers LWV - nur noch durch
Kreditaufnahmen finanzieren können.
Sie halten das für ein strukturelles Problem?
Ja. Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ist die bundesweit größte
Rehabilitationsleistung. Sie wird aber behandelt, als sei sie ein Fall für die
Fürsorge und wird deshalb noch in der Sozialhilfe geregelt. Doch mit Fürsorge
haben die Leistungen, die behinderten Menschen Wohnen und Arbeiten ermöglichen
sollen, nichts zu tun. Sie stellen einen Nachteilsausgleich dar. Deshalb müssen
sie in einem eigenständigen Leistungsgesetz geregelt werden, wie etwa die
Pflegeversicherung.
Könnten die Kommunen Leistungen kostengünstiger anbieten?
Ich sehe gegenwärtig keinen Beleg dafür, dass die Kommunen die Aufgaben
kostengünstiger ausführen können. Es ist vielmehr zu befürchten, dass die
Qualität in der Behindertenhilfe abnehmen wird, ohne dass am Ende Kosten eingespart
werden. Wenn es richtig ist, dass schon die Fusion zweier Landkreise
Personalkosten spart - um wie viel richtiger ist dies, wenn ein LWV für 21
Landkreise und fünf kreisfreie Städte tätig wird. Die Kommunen müssten die
Organisationsstrukturen des LWV 26 Mal abbilden, dies wäre nicht mit weniger,
sondern mit mehr Kosten verbunden. Vor allem bei den finanzschwachen Kommunen
bestünde die Gefahr, dass die Behindertenhilfe auf das Abstellgleis geschoben
wird.
Warum steigen die Kosten?
Die Kosten steigen dynamisch an, weil die Zahl der behinderten Menschen in den
letzen Jahren kontinuierlich und deutlich zugenommen hat.
Wie kommt das?
Zum einen partizipieren die behinderten Menschen heute auch von den
Fortschritten der Medizin. So überleben heute viele der bundesweit jährlich
etwa 200 000 Frühgeburten - viele aber leider mit schwersten Behinderungen, die
dann die ganze Palette der Eingliederungshilfe benötigen: Von der Frühförderung
über den Kindergarten, die Schule für praktisch Bildbare, die Werkstatt, das
Wohnheim und das Betreute Wohnen. Außerdem werden Behinderte heute älter als
früher. Vor 30 Jahren sind Menschen mit einem Down-Syndrom deutlich früher
verstorben als heute, wo sie häufig über 70 Jahre alt werden. Schließlich ist
die Alterspyramide der Behinderten eine andere als die der Gesamtbevölkerung.
Und das liegt daran, dass Menschen mit Behinderung durch die
Nationalsozialisten grausam ermordet wurden. Inzwischen ist eine neue
Generation von Behinderten herangewachsen, deren Durchschnittsalter deshalb
jünger ist als das der Gesamtbevölkerung. Wir sind froh, dass es die
Fortschritte in der Medizin gibt. Wir müssen daraus aber auch die Konsequenz
ziehen und die notwendigen Rehabilitationsleistungen organisieren.
Wie wollen Sie das finanzieren?
Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der sich Bund, Länder und
Kommunen zu gleichen Teilen stellen müssen. Zurzeit, und das ist das
eigentliche Problem der Behindertenhilfe, ist der Bund gar nicht beteiligt, das
Land zu gerade noch fünf Prozent über den Kommunalen Finanzausgleich und zu
über 80 Prozent die Kommunen, während die betroffenen Menschen anteilig mit
anrechenbarem Einkommen und Vermögen zu den Kosten beitragen.
Wo und wie spart der LWV?
Der LWV hat bereits vor zehn Jahren Reformen begonnen, die jetzt immer mehr
Wirkung zeigen. Wir haben die Sozialverwaltung, die ursprünglich ein nach einer
überholten Ämterstruktur aufgebautes Landessozialamt war, völlig umgebaut und
sie den unterschiedlichen Bedarfen angepasst. Geistig, seelisch oder körperlich
Behinderte, Suchtkranke oder Nichtsesshafte - sie alle benötigen und bekommen
unterschiedliche Hilfen. Das haben wir inzwischen organisiert in
Zielgruppenmanagements.
Wie viel konnten Sie sparen?
Wir haben durch eine solche passgenaue Organisation etwa 23 Millionen Euro
eingespart. Durch eine stringente Verwaltungsreform konnten wir auch
Personalkosten sparen: So beträgt der Personalkostenanteil 2005 nur noch 3,6
Prozent. Dies wurde auch möglich durch eine eigens entwickelte EDV-Unterstützung
von der Antragstellung bis zur Leistungsgewährung. Dank dieses Systems konnten
wir ein Controlling-System aufbauen, also auch betriebswirtschaftliche
Instrumente einführen. Seit Beginn der Reformen haben wir regelmäßig
Ausgabenentlastungen erwirtschaftet und eine Rücklage von 55 Millionen Euro
gebildet, die wir 2000 bis 2004 zur Verringerung der Verbandsumlage eingesetzt
haben, die jetzt freilich aufgebraucht ist. Hinzu kommt der Paradigmenwechsel
in der Behindertenhilfe, der sich besonders im Wohnen behinderter Menschen
ausdrückt.
Was bedeutet das genau?
Früher baute die Behindertenhilfe auf einer Heimstruktur auf. Doch jetzt wird
zunehmend erkannt, dass behinderte Menschen Autonomie anstreben und ihr Leben
auch selbständiger organisieren können, wenn man ihnen die richtige Hilfe
zukommen lässt. Und dies geschieht über das betreute Wohnen, das nicht nur
eindeutig die humanere Form der Rehabilitationshilfe ist, sondern auch noch die
deutlich günstigere. So kostet ein Platz im betreuten Wohnen durchschnittlich
26 Euro pro Tag weniger als ein Heimplatz. Schon jetzt haben wir in Hessen im
betreuten Wohnen einen Anteil von mehr als einem Drittel. Andere Bundesländer
liegen bei 20 bis 25 Prozent. Unser Ziel ist es, auf 50 Prozent betreutes
Wohnen und 50 Prozent Heimversorgung zu kommen. Auch dies zeigt, dass unsere
Reformen auch auf Kosteneinsparung ausgerichtet sind.
Leidet da nicht die Qualität der Behindertenhilfe?
Die Qualität der Behindertenhilfe darf in ihrer Substanz nicht leiden. In den
letzen Jahren haben wir die gestiegenen Personalkosten und -Tarifsteigerungen
im öffentlichen Dienst, an denen sich die Einrichtungen orientiert haben,
niemals voll an diese weitergegeben. Das bedeutet, dass die Einrichtungen auch
die Qualität ihrer Arbeit ein Stück zurücknehmen müssen. Eine moderate
Zurückführung von Standards hat es schon gegeben. Im Fall einer Auflösung des
LWV befürchte ich regionale Einschränkungen, die dann wohl alles andere als
moderat sind.
Interview: Gundula Zeitz
Die Fachabteilungen wurden
über das Sitzungsdienstverfahren beteiligt.